“Kinder der Freiheit” sind unser Ziel
–Professor Keupp referierte letzte Woche (11.4.) in der Montessori-Fachoberschule Kronach-
Für die zweite Veranstaltung in der MOSaik-Reihe konnte Schulleiter Andre Schneider den bekannten Sozialpsychologen Heiner Keupp aus München begrüßen. Der 75-jährige in Kulmbach geborene bekannte sich gleich zu seiner oberfränkischen Prägung -Kindheit und Jugend verbrachte er in Thierstein im Fichtelgebirge. Ein wissenschaftlich fundierter Vortrag über die ” Identitätsfindung und Sinnfindung im Jugendalter” erwartete die Zuhörer.
“Fitness bedeutet Anpassung, keine Freiheit!”
Keupp wandte sich zunächst gegen die Auffassung Kindheit und Jugend seien von vornherein zur Krise neigende, pathogenetische Phasen. Nach seiner Überzeugung wachsen in Deutschland Kinder und Jugendliche in ihrer großen Mehrheit gesund, selbstbewusst und kompetent auf. “Eine generelle Risiko-Perspektive ist nicht angebracht”, betonte Keupp, “notwendig wäre vielmehr der Blick auf die positiven Entwicklungsbedingungen der nachwachsenden Generationen.”
Im folgenden erläuterte Professor Keupp seine Vision davon, wie er sich die „Verwirklichungschancen“ für die “Kinder der Freiheit” vorstellt. Die Jugendphase werde verdichtet und beschleunigt hin auf das Ziel „employability“ (Einsetzbarkeit im Beruf). “Schneller fit” zu werden war das falsche Ziel der G8-Reform, zumal die damit vom einzelnen geforderte geistige, seelische und körperliche „Fitness“ Anpassung bedeutet : Sei bereit, dich auf alles einzulassen! Wer diesen Erwartungen nicht entspreche, dem drohe der Ausschluss.
Er forderte stattdessen “eine Kultur des Aufwachsens, die ein selbstbestimmtes Leben fördert,” und zeigte dann auf, welche Aufgaben und Probleme die Jugend heute bewältigen muss , um zu eigener Identität zu finden:
Entgrenzte Jugend durch flüchtige Moderne
Der Strukturwandel des Aufwachsens werde in der Fachdiskussion heute mit den Begriffen “entgrenzt”, “individualisiert”, “pluralisiert” oder “verdichtet” umschrieben. Wann ist man erwachsen? Mit 20, 30,40?- diese Frage stelle sich jetzt völlig anders als früher. Heutige Jugendliche müssen in kürzerer Zeit mehr Wissen und mehr Kompetenzen erwerben als noch vor zwanzig Jahren.
„Disembedding“ sei die Schlüsselkategorie zur Charakterisierung der Spätmoderne: …”Niemand kommt klar ohne seinen Rückzugs-und Ruhe-Ort!” Die klar vorgezeichneten und verlässlichen Bahnen beruflicher und privater Lebensverläufe lösen sich immer mehr auf. Aus den Normalbiographien werden Wahlbiographien.
Keupp zitierte den Journalisten Gabor Steingart:
„Wir selbst sind Gegenstand einer Transformation, die auf geheimnisvolle Weise in uns wirkt. Die Verrücktheit der Außenwelt spiegelt sich in uns wider. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, sagte einst Theodor Adorno. Heute müsste man hinzufügen: Es gibt kein normales Leben in Zeiten sich auflösender Normalität. (…) Wir erleben in unserer Gegenwart nicht das Ende der einen und den Beginn einer anderen Normalität, sondern das Ende von Normalität.”
Sehnsucht nach bewährten Tugenden
Daher zeige die SHELL-Jugendstudie von 2015,
* wie sehr die konservativen Werte wie Partnerschaft, gute Freunde und Familienleben, Gesetz und Ordnung, Fleiß und Ehrgeiz, Hilfe für Benachteiligte und Randgruppen von der heutigen Jugend -und seit 2010 stabil -hochgeschätzt werden! Weiterhin,
* dass junge Erwachsene in Deutschland mehr Angst vor Ausländerfeinden (48%) haben als vor Zuwanderern (29%) ! –
* und dass Jugendliche aus den sozial schwächsten Schichten nach wie vor ausgegrenzt bleiben –
* aggressiv-dissoziales Verhalten (30% bei 14-17jährigen zu beobachten) eher mit niedrigem Sozialstatus verbunden ist als mit Migrationshintergrund
* Verhaltensauffälligkeiten mit der Schulpflicht zunehmen und nach Ansicht von Keupp besonders bei Jungens auf Mängel im Schulsystem zurückzuführen sind , heißt also:
Nicht die Kinder dem Schulsystem anpassen, sondern das Schulsystem kindgerecht gestalten!
Wie sollen nun Jugendliche in dieser neuen Welt zu sich finden ?
“Fördert die Fähigkeit zur Selbstorganisation !”
Der Beruf muss heute öfters gewechselt werden, die Rollenfindung im Geschlechterkampf wird nicht einfacher, der Sinn im Leben muss selbst gefunden werden- die Jugend früher stand vor der Frage: Übernehme ich die vorgegebene Welt oder verändere ich sie? heute steht sie vor der Frage:
Wie organisiere ich meine Welt selbst unter all den Möglichkeiten und Freiräumen, die mir heute geboten werden? Wo “bette ich mich ein”, damit mein Leben gelingt?
Wie kann ich authentisch bleiben und werde dafür gleichzeitig von außen anerkannt ?
In dieser schwierigen Phase sucht der Jugendliche bei sich selber nach Selbstvertrauen und bei den anderen nach Zugehörigkeit und Vertrauen.
Die Jugend braucht heute nach Professor Keupp unbedingt eine materielle Kinder-Grundsicherung – damit die Widerstandskraft (=heute Resilienz genannt) aufgebaut werden kann durch Bindung, Vertrauen und Mitverantwortung, nur so könnten Risiken zu Ressourcen umgewandelt werden.
In der Fragerunde verwahrte sich Keupp gegen die Gefahr der digitalen Demenz, die viele seiner Fachkollegen auf die heutige Jugend zukommen sehen.
Auf die Frage, warum heutige Eltern ihren Kindern zwar zutrauen, mit Smartphones und sozialen Medien umzugehen, aber nicht erlauben würden, dass diese für 3 oder 4 Stunden unabgemeldet mit Freunden unterwegs sind oder auch nicht selbständig Schulhefte kaufen dürften, plädierte Keupp erneut an die Eltern, den Kindern wesentlich mehr Mit-Verantwortung zuzutrauen !
Positiv verwies er auf den ELTERN-TALK des Kinderschutzbundes, der auf Deutsch, Türkisch, Russisch, Arabisch und vielen anderen Sprachen Eltern mit Kindern bis 14 Jahren unterstützt.
Die Zuhörer verabschiedeten Herrn Professor Keupp für seinen engagierten Vortrag mit Applaus.